Klagenfurt: Ritter Verlag, 2021.
152 Seiten; broschiert; EUR 19,90.
ISBN: 978-3-85415-619-2.
Buchpräsentation am 11.06.2021
Rezension für das Literaturhaus Wien von Benjamin Schweitzer, 10. 05. 2021. Der Autor ist Komponist, Linguist und Übersetzer aus dem Finnischen.
Originalbeitrag: Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser/innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.
Vorschriftsmäßig schrumpfen
Noch immer scheut die Literatur meist vor jener Abstraktion zurück, die avancierte Bildende Kunst und Musik vor gut einhundert Jahren betreten haben und seitdem recht konsequent verteidigen. Lyrik und experimentelle Prosa allerdings haben sich hier einen gewissen Raum erschlossen, doch was .aufzeichnensysteme schreibt, ist weder Lyrik noch Prosa. Nach dem literarischen Genre befragt, dem ihre Arbeiten angehören, müsste man ebenso ausweichend wie treffend antworten: es ist Sprache. Eine Sprache, die wie ein Mobile die Balance austariert und austestet zwischen Assoziativität und Systematik, zwischen Wortsammlung, Worterfindung und Wortverbindung.
Da stehen Fetzen von Amts- und Techniksprech (für tot erklärt, lüftungsautomatik) neben Versatzstücken, die aus Zeitungsmeldungen stammen könnten, und dazwischen fährt Eigenes, entlegen Gefundenes oder abstrus Konstruiertes: treffsicher hantieren, in büscheln verkürzt, weiße kragenflüge. Oder verhält es sich andersherum, und es sind in Wahrheit jene Versatzstücke aus dem täglichen – auch übrigens dem literarischen – Floskel- und Formelgeschehen, die in einen ziselierten Bewusstseinsstrom hineingrätschen und ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen?
Man würde gerne schreiben, dass jene heteronomen Wörter und Wortverbindungen in ungewohnter Umgebung erfrischt erscheinen und eine eigene Poetik entfalten, aber so schön und einfach ist es nicht immer. Das Banale bleibt bisweilen auch banal und verweist darauf, wie fremdbestimmt unser Sprachhandeln häufig ist. Umso dankbarer ist man dafür, dass .aufzeichnensysteme immer wieder daran erinnert, was lebendige Sprache für uns bereithält und wozu sie in der Lage ist: lebloser matsch, den ganzen teller abgrenzen, zuflucht bietet aufnahme… Die Strukturen, die sie verwendet, sind überschaubar, es handelt sich überwiegend um einzelne Lexeme und Zweiwortkombinationen. In diesem Kontext wird eine Mehrwortphrase wie eingeschweißt in der vorstellung zu explodieren schon zum expressiven Ereignis. Nur mit Mühe wird man einige wenige Neologismen finden; überhaupt verschont sie uns dankenswerterweise mit jener angestrengt-prätentiösen Sprachspielerei, die experimentelle Literatur oft so kopfschmerzträchtig macht. Der Gesamteindruck ist vielmehr der einer entwaffnenden Eleganz und – um es mit keinem geringeren als Samuel Beckett zu sagen – „lessness“.
Wer die Arbeitsprozesse der Autorin einmal länger beobachten durfte, wird feststellen, dass sie eine Sammlerin par excellence ist. Eine, der noch in der vermeintlich reizlosesten Umgebung etwas ins Auge fällt, sich mit etwas anderem verbindet, woraus kleine Konglomerate aus Fundstücken entstehen, die man nur in den falschen Zusammenhang bringen muss, damit jedes Element für sich und in der Kombination mit anderen zu sprechen beginnt: Es ist alles schon da, aber es will eben auch aufgezeichnet sein.
Keinesfalls also haben wir es mit écriture automatique zu tun, vielmehr sind es durchaus geordnete Konstruktionen. Auch dort, wo sich die Prinzipien nicht unmittelbar erschließen, spürt man die bisweilen nachgerade perfiden Strategien. Eine Technik ist etwa, in der Art eines Dominospiels unter jeweils bestimmten Aspekten passende Elemente aneinanderzufügen; seien es Lautstrukturen – unter der haut / brausetablette / taststelle – oder gewissermaßen potenzielle semantische Verbindungen – in jedem Abteil / gestörte Luftzufuhr – und diese Domino-Regel zu brechen, sobald man meint, das nächste Glied vorhersehen zu können. Zugleich jedoch stehen viele Elemente über die Kapitelgrenzen hinweg miteinander in Verbindung: man mache sich nur einmal das Vergnügen, einem Motiv oder semantischem Feld, etwa dem der Lüftung, durch den Text zu folgen, um die frappierende Mehrdimensionalität dieser Literatur zu verstehen.
Damit befindet sich .aufzeichnensysteme natürlich in bester oulipotischer Tradition der Spracherweiterung durch formale Zwänge. In einer älteren Publikation der Autorin findet sich der schöne Satz Alles leuchtet, verschiebt sich, schrumpft und verschwindet nach Vorschrift. Wenn man die Techniken und das Programm von .aufzeichnensysteme treffend beschreiben wollte, dann genau so: Sprachliche Elemente werden ausgeleuchtet – teils aus schrägem Winkel – gegeneinander verschoben und derart auf das Unwesentliche reduziert, dass ihr Bedeutungsgehalt flexibel wird. Und all das geschieht nach Vorschrift, will sagen: mit einer Präzision und Bedachtheit, die ihresgleichen sucht, ohne dabei ausgestellt zu wirken.
Das fällt auch und gerade dann auf, wenn der Text das Risiko eingeht, seine Standfläche zu übertreten – nur ein kreuz etwa ist, als konkret identifizierbares Zitatfragment (aus „Life of Brian“), eine Störung; auch zahlencodes fällt heraus, weil hier, und sei es auch nur innerhalb des Wortes, das sonst nirgends verwendete Englisch durchscheint. Gerade daran, dass man in diesem stark abstrahierten Zusammenhang zu spüren meint, wenn etwas „wirklich nicht passt“ – jede Leserin wird (und soll) hier ihre eigenen Stolpersteine finden – lässt sich belegen, wie genau und unzufällig das alles gearbeitet ist.
Der Schrumpfungsprozess zieht sich durch die Arbeit von .aufzeichnensysteme. Die im Ritter Verlag erschienene Trilogie, deren Abschluss RAUTE vorstellt, unternimmt eine konsequente Verdichtung, die sich bereits an den Titeln ablesen lässt: IM GRÜNEN, GRATE, RAUTE – die nächste Schrumpfstufe ließe sich erahnen, und gerade deshalb darf man gespannt sein, wie .aufzeichnensysteme nun von hier aus dem Vorhersagbaren einen Haken schlägt.